Kalena und die vier Elemente
(Erzählung zur Weihnacht von JOSEF HUBER)
Unsere Tochter Kalena entwickelte sich schon früh zu einem ganz besonderen Kinde. Kaum konnte sie laufen, trollte sie immer wieder heimlich davon und versteckte sich im Wald oberhalb unserer Hofstelle. Meine Frau suchte sie besorgt und schimpfte mit ihr. Sie antwortete nicht und sah nur ernst und trotzig drein.
Ich ließ sie gewähren. In ihren Augen hatte ich ein seltsames Leuchten entdeckt. Ich blickte darin in ihre geheimnisvolle Kinderseele. Sie schien mir sehr verwandt in ihren Empfindungen. Sie reichten in einen tiefen Grund hinab.
Als Kalena etwa zwölf Jahre alt war, bemerkte ich, dass sie am Abend vor der Wintersonnenwende heimlich wegging. Ich sah sie von der Scheune aus, in der ich gerade beschäftigt war. Eine innere Eingebung riet mir, ihr zu folgen. Ich zog rasch die Wanderschuhe an und eilte ihr hinterher. Sie sah sich nicht um, sondern stapfte schnurgerade auf den dunklen Bergwald zu und verschwand darin.
Auf einer kleinen Lichtung hielt Kalena inne. Sie sah sich nicht um. Ich war ihr schon nahe und versteckte mich so leise wie möglich hinter einem dichten Wacholder-strauch. Auf einer aperen Stelle wühlte Kalena mit den Händen den Boden auf und häufelte Erde zusammen. Die Steinchen löste sie heraus und legte sie achtungsvoll beiseite. Nun zog Kalena kleine Kienspäne hervor, die sie von Mutters Holzstock in der Küche genommen hatte. Turmartig legte sie die Späne aneinander. Dann zündete sie diese mit einem Streichholz an. Ein Flämmchen züngelte empor. Aus der Tasche ihres zerbeulten Rockes holte sie nun ein kleines Fläschchen. Ich vermisste es seit einigen Tagen. Ich hatte darin Arnikaschnaps aufbewahrt, mit dem ich mir oft die Arme einrieb. Die Flasche war leer geworden, und ich hatte sie stehen lassen. Kalena hatte sie sich geholt und füllte sie nun mit Wasser, das neben ihr aus einer kleinen Quelle sprudelte. Nun träufelte sie es tröpfchenweise auf das Erdhäuflein rund um die kleinen züngelnden Flammen. Darauf fächelte sie mit den Händen Luft zu ihrem Feuerchen und machte kreisende Bewegungen. Ich hörte sie etwas murmeln, das ich nicht verstehen konnte.
War es ein Zauberspruch, mit dem sie die vier Elemente beschwor? Erde, Wasser, Feuer, Luft schien sie in einem geheimnisvollen Tun miteinander zu verbinden. Was bewegte mein Kind in dieser Stunde? Niemand hatte es zu diesem Handeln veranlasst, es war ganz sein eigenes Bedürfnis. Dreimal sprang Kalena über ihr Feuer und umkreiste es wie in Verzückung. Ich sah ihre Augen in einem seltsamen Glanz erstrahlen und in eine andere Welt blicken, die sie mit ihrem Tun geschaffen hatte. Schließlich hockte sie sich hin und umschloss Erde und Feuer mit ihren Händen wie einen Schatz. Sie stieß helle Laute aus, als wollte sie einen Gesang daraus formen, der in sehnsuchtsvollen Tönen auf- und niederstieg. Es war eine Botschaft, mit der sie eine Verbindung zwischen Himmel und Erde herstellte.
Ich war gebannt von diesem fast heiligen Tun meiner Tochter. In ihm vereinigten sich die Kräfte unserer Ahnen. Hatten sie ihr einen Weihezauber vererbt? Ich fühlte die Zeitalter in einer geheimnisvollen Kraft zusammenströmen. Die Erde ließ ihre dunklen Geister frei. Kalena vereinigte und bannte sie mit ihrem Zauber. In ihrer Seele wohnte ein Geheimnis, das in ihr unerklärlich entstanden war. Es würde sie ihr Leben lang mit den innersten Strömen der Erde verbinden und ihrem Wesen eine ungeahnte Kraft zuführen. Kalenas Stimme wurde leiser, sie hauchte eine seltsame Melodie in ihr Erdfeuer hinein.
Ganz langsam zog ich mich zurück. Ich mochte das Kind in seinem Tun nicht stören. Die Seele darf nicht profan abgelenkt werden, wenn sie eine heilige Handlung voll-zieht und sich der Kraft der Erde schenkt.
Wie träumend erreichte ich unseren Hof und setzte die Arbeit in der Scheune fort, bis mich meine Frau zum Abendmahl in die Stube rief. „Ich suche Kalena schon seit einer Stunde“, sagte sie besorgt, als wollte sie sich rechtfertigen, weil sie nicht auf sie geachtet hatte.
„Sie ist wohl in ihren Wald gegangen und wird bald wiederkommen. Wenn ein Kind bei sich selber sein will, soll man es nicht hindern“, sagte ich wie abwesend. Meine Frau blickte mich an. Ich nahm sie in die Arme und drückte sie an mich. Auf dem Korridor wurden leise Schritte laut. Kalena kehrte heim. Wir aßen schweigend. Auf ihrer Stirn wehte ein fernes Leuchten.
Anderntags begann es kräftig zu schneien. Der viele Schnee verwandelte die Welt um unseren Hof in ein Wintermärchen. Am Nachmittag holte ich die alte Weihnachtskrippe vom Dachboden und richtete sie auf. Weihnachten stand vor der Tür. Bald war Heiliger Abend.