Die Geschichtenerzählerin

(Erzählung zur Weihnacht von JOSEF HUBER)

 

Wenn es auf Weihnachten zuging, bekamen wir jedes Jahr Besuch von unserer Großtante, der Gottra Kathl, wie sie genannt wurde. Sie war die Tante und Ziehmutter unserer Mutter, deren eigene Mutter bereits in jungen Jahren an einer heimtückischen Krankheit verstorben war. Für uns Kinder war die Kathl die Muito, so als wäre sie unsere richtige Großmutter. Wie damals üblich, redeten wir Kinder die Muito immer in der zweiten Person Plural an. Damit bezeugten wir Respekt und Anerkennung vor ihrer Weisheit und dem Alter. Muito war eine tiefgläubige alte Frau mit feinen Gesichtszügen und dichtem, schlohweißem Haar. Da ihr einziger leiblicher Sohn als Missionar in Afrika tätig war, lebte sie allein in einem alten, etwas heruntergekommenen Zuhäusl in der Nähe von Bruneck. Wenn Muito auf Besuch kam, blieb sie meist eine ganze Woche lang auf unserem Hof. Meine Geschwister und ich genossen diese Zeit sehr. Wir machten ausgedehnte Spaziergänge, spielten Karten, und abends lauschten wir oft gespannt ihren Geschichten, die sie uns in der alten Stube erzählte. Da wir damals noch keinen Fernseher hatten, waren wir geradezu süchtig nach ihren Geschichten; sie waren für uns ein Tor in eine Anderswelt, weit abseits von harter Arbeit und kargem Brot. Muito war eine großartige Erzählerin. Sie stand in der Tradition jener Menschen, die vor dem medialen Zeitalter über Jahrhunderte und Jahrtausende an langen Abenden die Zuhörer fesselten und in ihren Bann zogen. An langen Winterabenden in der Zeit vor Weihnachten, baten wir Muito häufiger als sonst, sie möge uns eine Geschichte erzählen. Diesem Wunsch entsprach sie gerne. Dabei erzählte sie uns eine Geschichte in abgewandelter Form immer wieder neu. Sie machte es sich auf der warmen Ofenbank gemütlich, wir sechs Geschwister kauerten um sie herum. Im matten Schein der schwachen Glühlampe wirkte ihre Gestalt schemenhaft, der Realität entrückt. Sie erzählte:

 

In einem sonnigen Tal nicht unweit von hier lebte einst ein reicher Bauer, dessen fruchtbaren Äcker man nur mit einem Gespann von mindestens vier Ochsen zu pflügen vermochte. In seinen ausgedehnten Wäldern standen die mächtigsten Fichten und Lärchen weit und breit. Um der vielen Arbeit nachzukommen, war über ein Dutzend Knechte und Mägde ganzjährig am Hof beschäftigt. Selbst ein Sägewerk und eine Kornmühle nannte der Bauer sein Eigen.

In jungen Jahren war der Bauer noch recht leutselig und umgänglich, allmählich aber wurde er hartherzig, geizig und raffgierig. Obwohl der stattliche Hof ihm ein angenehmes Leben ermöglicht hätte, bestand sein einziger Lebenszweck darin, den Besitz zu mehren und Geld zu horten. Seine Dienstboten behandelte er zunehmend wie Sklaven, was letztlich dazu führte, dass sie ihren Getreidebrei wie Tiere aus hölzernen Trögen zu sich nehmen mussten. Nie war es genug mit der geleisteten Arbeit, und immer fand er einen Grund, an den ohnehin schon kargen Löhnen Abstriche zu machen. Wie es so oft ist bei reichen Menschen, konnte der Bauer seinen Hals einfach nie voll genug bekommen. So machte er sich in finsteren Nächten etliche Male auf, um Grenzsteine zu versetzen, damit sein Besitz auf Kosten der anderen Bauern noch größer würde. Das war ein ungeheurer Frevel, denn in Tirol ist dem Bauer der Besitz von Grund und Boden heilig und darf niemals angetastet werden. Solcherart wurden die Äcker des Bauern noch größer, ohne dass er dafür auch nur einen Heller ausgeben musste. Mit den Jahren entwickelte der Bauer harte, hässliche Gesichtszüge, aus seinen Augen starrte die nackte Gier. Immer öfter saß der Bauer nun auch werktags in der Stube und ließ sich die besten Speisen auftragen. Gierig verschlang er Unmengen von Fleisch und trank kübelweise Wein dazu. Abends, wenn die anderen Hausleute in der Stube ihren täglichen Rosenkranz beteten, schlich er sich in seine Kammer, wo er in einer hölzernen Truhe sein Geld aufbewahrte. Genüsslich öffnete er die schmiedeeisernen Schlösser und starrte auf das viele Geld, bis er schließlich in schallendes Gelächter ausbrach, welches selbst die Rosenkranz betenden Hausleute in der Stube mit Schauder hören konnten. Wie besessen wühlte er oft minutenlang in den Gold- und Silbermünzen herum. Der Klang des Geldes bedeutete ihm alles.

Das viele Essen und Trinken, das tagelange Herumsitzen und wohl auch das schlechte Gewissen blieben nicht ohne Folgen. Der Bauer wurde fett und kurzatmig. Bald hatte er Mühe, von der Stube in die Küche zu kommen, an ein Mitarbeiten auf dem Hof war nicht mehr zu denken. Im Frühling, wenn vor dem offenen Stubenfenster die Vöglein zwitscherten, ärgerte er sich maßlos darüber, weil er nicht verstehen konnte, dass ein ärmliches Wesen mit ein paar Federn am Leib so fröhlich und lebenslustig sein konnte. Und wenn im Spätsommer sein Blick über die wogenden Getreidefelder schweifte, sah er nicht etwa mit Dankbarkeit auf eine göttliche Gabe der Natur, nein, seine Gedanken kreisten unwillkürlich um die Taler, welche ihm der Verkauf des Korns einbringen würde.

Mit knapp 60 Jahren kam der Bauer nicht mehr aus dem Bett. Rheuma, Gicht und Magenschmerzen plagten ihn immer mehr. Geiz, Reichtum und Überfluss hatten seine Seele zerfressen und den Körper zerstört. In den Morgenstunden einer nebelverhangenen Novembernacht läutete das Sterbeglöcklein in den jungen Tag hinein. Das Herz des Bauern hatte aufgehört zu schlagen. Als die Bäuerin an seinem Sterbebett eine Kerze anzündete, huschte ein kalter Hauch durch das Haus. Wie von Geisterhand öffneten sich von allein die Schlösser seiner Schatztruhe. Das viele Geld darin nutzte dem Bauern mit einem Schlag nichts mehr; das letzte Hemd hat bekanntlich keine Taschen.

Die Zeit der Trauer am Hof währte nicht lange. In der folgenden Vollmondnacht geschah Sonderbares. Gegen Mitternacht durchbrach plötzlich eine klagende, weinerliche Stimme die nächtliche Stille. Einige der Bauersleute wachten davon auf und sahen aus dem Fenster. Mit Schrecken sahen sie ein flackerndes, umherhüpfendes Lichtlein auf dem Acker, dessen Grenzsteine der geizige Bauer zu Lebzeiten versetzt hatte. Eine Stunde nach Mitternacht war der Spuk vorbei, die nächtliche Ruhe kehrte zurück. In der nächsten Vollmondnacht knapp einen Monat später wiederholte sich das schaurige Treiben auf dem Acker. Balthasar, ein kräftiger Knecht in den besten Jahren, schritt ins Freie und ging beherzt auf das flackernde Licht zu. Plötzlich kam ein kalter Wind auf und schwoll zu einem Sturm an. Balthasar hielt inne. Was er da zu sehen bekam, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Das flackernde Licht entpuppte sich schemenhaft als brennender, hässlicher alter Mann in Gestalt des verstorbenen Bauern. Er wollte Kehrt machen, doch eine geheime Kraft lähmte seinen kräftigen Leib. Erst als das Licht hinter dem nahen Horizont verschwand, löste sich die Starre, und der Knecht konnte zum Hof zurückkehren.

Noch am selben Tag suchte die Bäuerin den Pfarrer auf und berichtete ihm vom mitternächtlichen Treiben. Pfarrer Alois verstand sofort. In der kommenden Vollmondnacht wolle er selber nach dem Rechten sehen. Als es so weit war, traf er gegen Abend auf dem Hof ein. In seiner linken Hand hielt er einen hölzernen Eimer mit Weihwasser, in der rechten einen Rosenkranz und einen handlichen Besen aus Birkenreisig. Alle Hofleute begaben sich in die Stube, wo man gemeinsam drei Rosenkränze betete. Als die Turmuhr Mitternacht schlug, schritt der Pfarrer mit Weihwasser, Rosenkranz und Besen ins Freie. Heftiger Sturm kam auf, Nebelschwaden waberten über die dunklen Fluren. Da erschien am Horizont wieder das feurige Licht, diesmal einen blutroten Schweif hinterherziehend. Pfarrer Alois ging auf das Licht zu und besprengte es mit Weihwasser. Er sprach: „Bauer, bist du das?“ Da heulte und greinte es fürchterlich. Mit Schaudern erkannte nun der Geistliche den Bauern, in seinen Armen einen schweren, steinernen Grenzstein haltend. Ähnlich einem Teufel trippelte das lodernde Männlein auf Bockfüßen umher, so als suchte es etwas. Plötzlich legte sich der Sturm und eine gellende, herzzerreißende Stimme rief: „Wo soll ich den Stein hinlegen?“ Auf diesen Augenblick hatte Pfarrer Alois gewartet. Er übergoss das feurige Bündel zischend mit dem Rest des Weihwassers und rief: „Gib ihn dorthin, wo du ihn herhast!“ Da schleppte das Männlein den Stein an die rechte Stelle und ließ ihn krachend fallen. Schweißgebadet kehrte der Pfarrer zum Hof zurück, wo er noch in dieser Nacht das ganze Haus mit geweihten Kräutern ausräucherte. Nun war der Bann gebrochen, der geizige Bauer wurde seitdem nie mehr gesehen.

 

Wir Kinder hatten inzwischen eine ordentliche Gänsehaut bekommen und zogen die Beine ein, wohl um den bösen Geistern möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Anderntags spielten wir mit Muito Karten und buken Weihnachtskekse. Bald war Heiliger Abend.